C. Christ-von-Wedel u.a. (Hrsg.): Erasmus in Zürich

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Titel
Erasmus in Zürich. Eine verschwiegene Autorität


Herausgeber
Christ-von Wedel, Christine; Leu, Urs. B.
Erschienen
Zürich 2007: NZZ Libro
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jan-Andrea Bernhard

Endlich liegt eine umfassende, quellenorientierte und kritische Darstellung des Einflusses von Erasmus auf die Zürcher Reformation vor. Der Forderung von Fritz Büsser und Cornelis Augustijn, diesen Einfluss ernst zu nehmen und genau zu untersuchen, wird mit dem vorliegenden Sammelband mit spezifischen Studien Rechnung getragen. Freilich ist es nicht ein Sammelsurium von einzelnen Beiträgen, sondern die Studien ordnen sich nach dem Vorwort von Emidio Campi und einer von der Mitherausgeberin Christ-von Wedel verfassten erfrischenden Einführung in die Problematik des Themas den übergeordneten Fragen nach dem Vorspiel (S. 37–74), der Reformation (S. 75–271) sowie Schule und Gelehrsamkeit (S. 272–365) unter. Daran schliesst sich der Anhang mit den Anmerkungen, ein Abkürzungsverzeichnis sowie die Bibliographie, verschiedene Register, der Bildnachweis und die Angaben zu den Autoren (S. 365–480).

Um es gleich vorwegzunehmen: Mit dieser Darstellung hat jeder Reformationshistoriker erstmals die auf intensivsten Quellenstudien basierende Grundlage, um seine Forschungen zu diesem Thema zu betreiben. Beherrscht wird der Band von den sehr kenntnisreichen Studien der beiden Herausgeber Christine Christ-von Wedel und Urs B. Leu. Doch auch aufs Ganze gesehen sind die einzelnen Beiträge äusserst minutiös erarbeitet und darum auch ertragreich. Sie zeugen von einer grossen Quellenkenntnis und der Fähigkeit, diese im historischen Kontext einzuordnen und zu deuten.

Insgesamt ist den Verfassern der einzelnen Beiträge eine fundierte Kenntnis der Forschungsdiskussion zu den behandelten Themata zu zollen; dies erweist sich gerade darum als fruchtbar, da verschiedene Forschungsansichten aufgrund eines intensiven Quellenstudiums korrigiert bzw. differenziert werden können. Einzelne Beipiele sollen genannt werden: So korrigiert Christ-von Wedel z.B. die Ansicht, dass Zwingli in der Frage der «seligen Heiden» von Erasmus abhängig gewesen sei (S. 138f.), oder dass die Zürcher sich von Erasmus abgewandt hätten (S. 124ff., 163); Diana Clavuot-Lutz kann entgegen Irena Backus nachweisen, dass sich Bullinger zwischen 1525 und 1535 durch die Auseinandersetzung mit Erasmusschriften in seiner Bibelexegese entwickelt hat (S. 193ff., 221); Kurt Jakob Ruetschi kann belegen, dass Gwalthers Exegese – im Unterschied zu Bullinger, Jud, Pellikan oder Bibliander – nur indirekt von Erasmus beeinflusst ist (S. 241); und Christian Scheidegger weist in seiner minutiösen Untersuchung definitiv nach, dass Erasmus den Täufern keineswegs den Anstoss zur Kritik an der Kindertaufe gegeben hat, gleichzeitig aber seine Schriften, vor allem die Paraphrasen, von den Täufern häufig benutzt worden sind (S. 258ff.). Gerade in der Frage der Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte erasmischer Schriften erweist sich schliesslich auch der Hauptertrag des Buches: Einerseits wird facettenreich – nicht nur in der bahnbrechenden und äusserst ertragreichen Studie von Christ-von Wedel (S. 77–165) – nachgewiesen, dass Erasmus in Zürich als die exegetische Autorität galt, d.h., dass seine Schriften, vor allem seine zweisprachige Ausgabe des Neuen Testaments mit den Annotationes und seine Paraphrasen, für die bibelexegetische Arbeit in Zürich ausnehmend benutzt wurden. Die nicht nur zahlreichen, sondern auch wertvollen Quellenexzerpte ermutigen den geneigten Leser, die Abhängigkeiten und teilweise wörtlichen Übernahmen von erasmischem Gedankengut selbst nachzuvollziehen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch auf die grosse Anzahl von in Zürich gedruckten Erasmiana zu verweisen, die Urs B. Leu in den europäischen Kontext setzt und damit die Bedeutung von Erasmus in Zürich von einer anderen Seite bravurös nachweisen kann ( S. 274ff.). Ein besonderes Verdienst kommt dabei Leo Jud zu, dem es ein besonderes Anliegen war, gute geistliche Schriften einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen, und der zu diesem Zwecke die Paraphrasen oder auch die Expostulatio Jesu ins Deutsche übersetzte. Die diesbezüglichen Ausführungen von Christ-von Wedel (S. 159ff.), Stefan Veit Frech (S. 177ff.) sowie Urs B. Leu (S. 278ff.) sind fundiert erarbeitet und regen zu weiteren Forschungen an. Andererseits wurde, wie Leu in seiner Studie über die Zürcher Buch- und Lesekultur minutiös nachweist, nicht nur das Studium an der Zürcher «Prophezei» massgeblich von Erasmus’ Schriften beeinflusst, sondern auch die Zürcher Jugend wurde in bisher «ungeahntem Masse von Erasmus geprägt: sie lasen sein lateinisches Neues Testament und die von ihm kommentierten Klassikerausgaben, wurden anhand von De duplici copia in Lernmethodik und Arbeitstechnik eingeführt, erfuhren über die Lektüre der Disticha Catonis, der Parabolae und der Colloquia nicht nur, wie sich gutes Latein anhört, sondern auch, was einen Christen im Alltag ausmacht, und erhielten mit De civilitate morum puerilium den letzten Schliff, um ins Leben hinaus entlassen zu werden» (S. 307).

Zusammenfassend darf gesagt werden, dass mit den einzelnen Studien nachgewiesen werden kann, dass die Zürcher Reformation, die als Prototyp des reformierten Protestantismus gelten darf, ideengeschichtlich weitgehend aus dem Humanismus erasmischer Prägung herausgewachsen ist.

Der Sammelband zeigt allerdings auch Grenzen: Einmal ist die Quellenbasis in manchen Beiträgen (Barbara Helbling, Georg Christ, z.T. Scheidegger) relativ schmal, so dass manche Folgerungen nur als Vermutungen geäussert werden können; die dargestellten Erkenntnisse bedürfen also weiterer Forschungs- und Quellenarbeit. Weiter wäre es in einzelnen Beiträgen (Frech, Rüetschi) wünschenswert gewesen, wenn die Forschungserkenntnisse vertiefter gedeutet worden wären.

Problematischer wiegen freilich manche undifferenzierte, teils pauschalisierende Aussagen, die sich gelegentlich über Calvin, Bullinger, Melanchthon und Luther finden lassen. So sind die knappen Äusserungen von Christ-von Wedel zur Willenslehre, was Calvin anbelangt (S. 112ff.), kritisch zu hinterfragen, da Calvin sich dazu, wie aus seiner Schrift Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de servitute et liberatione humani arbitrii... (1545) gegen Albert Pighius deutlich wird, viel differenzierter geäussert hat. Problematisch ist auch Rüetschis Ansicht, dass Melanchthon zeitweise den calvinistischen Auffassungen der Prädestinations- und Abendmahlslehre nahekam (S. 354); Calvins Unterschrift unter die Confessio Augustana variata (1540) und Melanchthons Zustimmung zum Consensus Tigurinus (1549) zeigen vielmehr, dass die beiden Theologen sich immer schon sehr nahe gestanden haben. Schliesslich vernachlässigen auch Georg Christs Ausführungen zur Türkenstellungnahme Luthers und Erasmus’, dass die beiden Theologen in der Beurteilung der Türkenfrage einer Entwicklung unterworfen waren (S. 320ff.): So hielt Luther auch nach Mohács (1526) in seiner Schrift Vom Kriege widder die Türcken (1528/29) daran fest, dass ein Krieg unter christlichem Namen wider die Türken zu verwerfen sei, ja seine Skepsis in bezug auf einen Türkenkrieg bestand auch noch nach der Einnahme Budas durch die Türken (1541) weiter, wie aus seiner Vermahnung zum Gebet widder die Türcken (1541) deutlich wird. Bei Erasmus hingegen ist seit Mohács in seinen Briefen eine Veränderung in seiner Argumentation festzustellen, bis schliesslich er mit seiner Psalmenauslegung Utilissima consultatio de bello Turcis inferendo (Basel 1530) öffentlich zum Krieg gegen die Türken aufrief.

Trotz diesen kritischen Anmerkungen ist dem Werk als Ganzes äusserst hohes Lob zu zollen; sie vermögen in keiner Weise den grossen Beitrag des Werks zur Erforschung der Rezeption von Erasmus im reformierten Protestantismus zu schmälern. Dabei ist das Werk nicht nur von einer Fachleserschaft mit grossem Nutzen zu lesen, sondern auch von interessierten Laien, da die Autoren es nicht gescheut haben, sehr gute Übersetzungen der vielen lateinischen Texte anzufertigen. Der insgesamt namhafte Ertrag wird, wie auch der abschliessende Beitrag von Rüetschi über die Wandfresken in der Druckerei Froschauer belegt, zudem immer wieder durch bemerkenswerte Bildtafeln und erhellende Quellenfunde erfrischt.

Zitierweise:
Jan-Andrea Bernhard: Rezension zu: Christine Christ-von Wedel, Urs B. Leu (Hg.): Erasmus in Zürich. Eine verschwiegene Autorität. Zürich, NZZ Libro, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 361-363.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 361-363.

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